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ORGANVERSAGEN: WARTEN BIS ZUM TOD

Premiere der vierteiligen Doku „Charité – Gegen die Zeit“


Die Premiere der neuen ARD-Dokumentation von Mareike Müller und Carl Gierstorfer fand im Oktober in Berlin statt. Alle Mitwirkenden waren dazu eingeladen. Es war ein Abend der Emotionen und eines klaren Auftrags: Es muss sich etwas ändern.


Die Doku richtet die Kamera dorthin, wo es weh tut und wo in diesem Land weggeschaut wird: auf Menschen, die auf eine Organspende warten. Alles daran ist eine Zumutung. Hoffnung, Angst, Enttäuschung, Verzweiflung, Überforderung, Glück und Trauer - hier geht es um existenzielle Fragen. Es fließen Tränen der Freude und Tränen des Schmerzes. Wem diese Schicksale nicht ans Herz gehen, hat keins.


„Dokumentation“ ist ein nüchterner Begriff für die emotionale Wucht, mit der das Thema Organspende hier angegangen wird. Aufgeschnittene Körper, Blut, Organe in Plastiktüten, tropfende Sekrete: Im OP-Saal endet und beginnt Leben. Wenn die Leber sich wieder mit Blut füllt und das fremde Herz zu schlagen beginnt, wird greifbar, was moderne Medizin in den Händen von SpitzenmedizinerInnen zu leisten imstande ist - wenn man sie denn lässt.


Warten bis zum Tod


Das Beispiel von Nicole, einer jungen Frau mit plötzlichem unerklärlichem Leberversagen, zeigt, dass es von heute auf morgen jeden treffen kann. Jeder sollte sich darüber im Klaren sein, dass er oder sie in Deutschland dann besonders schlechte Karten hat. Nicht nur innerhalb Europas, sondern weltweit rangiert unser Land bei den Organspendezahlen auf den hinteren Plätzen [1]. 


Was Warten bedeutet, wird besonders deutlich bei drei Männern, die ein Herz benötigen. Monate verbringen sie zusammen in der Klinik. Der Ort der Hoffnung ist zugleich ein Gefängnis. Familienvater Lars hat es nicht geschafft - das rettende Herz kam nicht. Die letzten über 100 Tage seines Lebens hat er im Krankenhaus verbracht, getrennt von seiner Frau und seinem Kind. Auch dies zeigt die Dokumentation: dass der Mangel an Organspenden viel mehr Menschen betrifft als nur die erkrankte Person, nämlich die Ehefrau, die Tochter, den Sohn, den Bruder, die Schwester, die Mutter und den Vater. Die Tränen der Angehörigen von Lars, die mit seinem Leidensweg auf der Leinwand noch einmal im Großformat konfrontiert wurden, waren schwer zu ertragen.


Eine Politik gegen kranke Menschen


Nun ja. Wo die Hinterbliebenen trauern, bleiben viele Politikerinnen und Politiker erstaunlich kühl. „Eine Politik gegen kranke Menschen“, titelte jüngst die Ärztezeitung [2]. Einer, der den WartepatientInnen bei der Premiere seine Ehre gab, war Bundespräsident Walther Steinmeier. Vor 13 Jahren spendete er seiner Frau eine Niere. Vermutlich, weil er ihr die überproportional lange Wartezeit nicht zumuten wollte. Die wenigsten Menschen haben ein solches Glück. Daher ist zutiefst enttäuschend, dass seine Stimme in der Politik nicht hörbar ist. Es bleibt bei symbolischen Akten, die niemanden weh tun und niemandem helfen.


Zeit für eine Verfassungsklage


Einer, der sich mit der Situation nicht abfindet, ist Mario Rosa-Bian, Vorstandsvorsitzender der I.G. Niere NRW und seit 27 Jahren nierentransplantiert. Seit Jahren engagiert er sich ehrenamtlich bei der Aufklärung über Organspende. Seit 30 Jahren begleitet er auch das kontinuierliche Politikversagen in Form von Untätigkeit, Unwillen, Blockaden, halbherzigen oder ungeeigneten Maßnahmen, Ressourcenmangel, aber auch fehlenden Kontrollmechanismen und Sanktionen in den Kliniken, einer lächerlichen Vergütung von 7,32 Euro für die Aufklärung über Organspende in Hausarztpraxen, eines Registers, das nicht kommt und allein technisch eine hohe Hürde sein wird, um sich einzutragen.

Der Satz „Lars hat es nicht geschafft“, muss daher korrigiert werden: Die Politik hat es nicht geschafft, Lars das Leben zu retten. Warten auf Verbesserungen, die nicht kommen - damit muss Schluss sein. Deshalb wird eine Verfassungsbeschwerde eingereicht.

Familienvater Lars ist während der Wartezeit gestorben.
DOCDAYS/rbb

Familienvater Lars ist während der Wartezeit gestorben.

Olaf ist Patient im Berliner Paulinenkrankenhaus. Er wartet auf ein Spenderherz.

Ärztin Tina Barsikow kann Patienten wie Lars kaum noch helfen, wenn alle Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft sind.

Ursachen liegen im gesamten System


In einem ergänzenden Film („ARD Story“) werden die
Ursachen des eklatanten Organmangels in Deutschland unter die Lupe genommen. Dies ist wichtig, da in der Dokumentation auch Aussagen gemacht werden, die wir nicht teilen. So behauptet ein Intensivmediziner, eine Ursache für den Organmangel sei die unzureichende Spendenbereitschaft in der Bevölkerung. Die Fakten sprechen eine andere Sprache: Umfragen zufolge sind über 80% der Bürger:innen der Organspende gegenüber positiv eingestellt und eine Mehrheit befürwortet auch eine Widerspruchsregelung. [3-5]


Gesundheitsminister Karl Lauterbach plädiert in der ARD Story daher auch erneut für die Widerspruchregelung (Opt-out) und macht deutlich, dass er sich von dem geplanten Register keinerlei Effekt verspricht. Der FDP-Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann bringt die Organspende nach Herztod ins Spiel. Eine Ethik-Expertin spricht von „moralischen Trittbrettfahrern“. Das sind Menschen, die im Ernstfall ein Organ annehmen, selbst aber keine Entscheidung treffen oder eine eigene Spende ablehnen. Im großen Maßstab trifft dies auch auf Deutschland zu: Wir nehmen über Eurotransplant mehr Organe an als wir abgeben – auch von Ländern, in denen eine Opt-out-Regelung gilt.


Einige der Ursachen wurden bereits auf der Diskussion im Anschluss an die Filmpremiere angesprochen. Prof. Georg Lurje, Transplantationschirurg, der Nicole in einer 8-stündigen Operation buchstäblich in letzter Sekunde das Leben gerettet hat, fand deutliche Worte. Er kritisierte, dass in der Politik das Wissen über Organspende bei weitem nicht ausreiche. „Sie wollen die Bevölkerung aufklären, sind es aber selbst nicht.“ Zudem wies er auf ein gravierendes Ressourcenproblem hin: Viel zu viele potenzielle Spender:innen würden auf den Intensivstationen daher nicht identifiziert. Mit 15 OrganspenderInnen in diesem Jahr stehe auch die Charité selbst nicht allzu gut da, so Prof. Lurje.
 
Mario Rosa-Bian sprach von einem „Unentschieden“ auf verschiedenen Ebenen. Im Parlament würden Gegner der Widerspruchsregelung nichts unternehmen, aber auch ihre Befürworter nicht. Die Politik schiebe die Verantwortung auf die Kliniken (mangelnde Spendererkennung) und die Mediziner auf die Politik (fehlende Opt-out-Regelung). Anders als beim Fußball gebe es hier aber
Opfer, die mit ihrem Leben bezahlen.


Kirsten Kappert-Gonther, Vize-Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, Abgeordnete der Grünen, und erbitterte Gegnerin einer Opt-out-Regelung, ließ den Filmemachern übrigens ausrichten, sie habe keine Zeit für ein Interview.


Was Lars wohl dazu gesagt hätte? – Er, der wirklich keine Zeit mehr hatte.


Die Doku in der ARD-Mediathek


ARD-Story – Ursachen



Quellen

  1. Domínguez-Gil B, NEWSLETTER TRANSPLANT. International figures on donation and transplantation 2022. EDQM 2023; Vol. 28,
  2. https://www.aerztezeitung.de/Politik/Eine-Politik-gegen-kranke-Menschen-443500.html
  3. BZgA-Studiendaten belegen allgemein positive Einstellung zur Organ- und Gewebespende v. 9.3.2023; https://www.bzga.de/presse/pressemitteilungen/2023-03-09-bzga-studiendaten-belegen-allgemein-positive-einstellung-zur-organ-und-gewebespende/,
  4. https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/umfragen/id_87160604/bundestagsdebatte-zur-organspende-so-denken-die-deutschen-ueber-die-widerspruchsloesung.html,
  5. https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/umfrage-meinung-organspende-widerspruchsloesung-100.html


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